Führen mit kollektiver Intelligenz - ein Überblick


Was heißt das?

Kollektive Intelligenz ist ein Phänomen, was in der Natur verbreitet ist, und was bei bestimmten Voraussetzungen auch in Teams und Gruppen von Menschen entsteht. 

In der Natur ist sie (unbewusster) Teil biologischer Vorgänge, wie z.B. beim Prozess der Fotosynthese oder beim menschlichen Sehvorgang. Verschiedene Zellen arbeiten gemeinsam und zielgerichtet, und daraus entsteht ein Ergebnis, was größer ist als die Summe der einzelnen Arbeitsvorgänge.

Kollektive Intelligenz entsteht, wenn die Teile eines Teams so zusammen arbeiten, dass sie gemeinsam etwas schaffen, das größer als die Summe der einzelnen Leistungen ist. Dadurch entstehen die besten (kollektiven) Entscheidungen, die größte Kreativität und komplexe Ideen, die in unser interdependenten Welt sehr gefragt sind. Oder anders ausgedrückt: wenn eine Gruppe oder ein Team es schafft, ihre kollektive Intelligenz zu aktivieren, dann entstehen überraschende und kreative Ergebnisse, die zuvor nicht denkbar waren. 

Voraussetzung ist, dass ein Team oder eine Gruppe miteinander im Einklang arbeiten. Dass sie die gemeinsame Kraft auf ein Ziel ausrichten, dem jeder dienlich sein möchte, jeder mit seiner individuellen Stärke.

Warum ist das so wichtig?

Längst wissen wir, dass weder hierarchische Führung noch das Wissen Einzelner komplexe Lösungen erzeugen können. Antworten auf Komplexität können nur durch eine Vielzahl komplexer Menschen gefunden werden. Dafür benötigen Mitarbeiter den Raum, ihr Potential zu sehen und zu zeigen, dieses mit Kollegen zu teilen und weiterzuentwickeln, und gemeinsam ihre Potentiale zusammenzubringen, damit aus diesem komplexen Potential, die richtigen Lösungen kommen. Eine Antwort dafür liegt in dem Potential kreativer, handlungsschneller und Komplexität abdeckender Entscheidungen durch kollektiv intelligente Teams.

„Die Zukunft benötigt gut funktionierende Teams“

Über das Phänomen der kollektiven Intelligenz wird häufig nicht gesprochen, weil es (unbewusst) passiert. Die kollektive Intelligenz der Natur wird als selbstverständlich angenommen, und nur dann thematisiert, wenn der Vorgang fehlerhaft ist. Also wenn z.B. eine Zelle nicht richtig funktioniert, kann das Auge eine Rot-Grün Schwäche haben, oder es werden Räume oder Entfernungen nicht mehr richtig eingeschätzt. Dann ist der kollektive Vorgang fehlerhaft, weil ein Teil nicht mehr ihre Aufgabe in Gänze erfüllt. 

Die Fehlerhaftigkeit kollektiver Vorgänge ist im übertragenen Sinne in Organisationen häufig sichtbar. Durch Mißtrauen, Angst und starker Kontrolle hervorgerufen, wirken Teammitgliedern und Führungskräften nicht mit einer gemeinsamen Ausrichtung, und auf ein gemeinsames Ziel. Stattdessen werden, durch Einzelinteressen motiviert, Handlungen vorgenommen, die für sich allein vielleicht verständlich sind, aber nicht für ein größeres Ganzes zusammenwirken.

Das heißt, die einzelnen Handlungen sind nicht miteinander verbunden, wodurch viel Kraft und vor allem kollektiver Erfolg verloren geht.

Purpose als Voraussetzung für das Entstehen kollektiver Intelligenz

Damit ist klar, was die erste Voraussetzung für das Entstehen kollektiver Intelligenz ist. Es bedarf einer Verbundenheit der einzelnen Handlungen. Es bedarf einer Ausrichtung für etwas Größeres Ganzes, was die Einzelbeiträge verbindet, bzw. wofür die Einzelbeiträge umgesetzt werden. 

Diese Verdichtung der Einzelbeiträge gelingt, wenn die Kraft des Teams auf einen gemeinsamen Purpose (Sinn) ausgerichtet ist. Der Purpose stellt dabei keine Vision dar, diese ist zumeist eher Ego-getrieben und erzeugt nicht die Kraft, ihr auch wirklich zu folgen. Der Purpose beschreibt stattdessen den tieferen Grund für die Existenz der Organisation und damit seiner Teams. Er gibt Aufschluss über den Unterschied, den die Organisation in der Welt machen kann. Der Sinn bringt die Zukunft der Organisation zum Vorschein, er ersetzt die klassische Mission, Vision und auf Dauer auch die Unternehmensstrategie. Ein Beispiel für Sinnbeschreibung ist die des relativ bekannten Outdoortextilunternehmens Patagonia: ihr Purpose ist die „Nutzung der Wirtschaft, um Lösungen für die Umweltkrise zu erfinden und umzusetzen“. 
Auf dem Weg zum Fühlen des Purpose, trifft die folgende Frage für mich den Kern: „Im jetzigen Kontext, mit den Ressourcen, Talenten und vorhandenen Kapazitäten, dem Produkt, was wir anbieten und mit der Geschichte unserer Organisation und seiner Marktposition – was ist das tiefste Potential, was sich in der Welt verwirklichen kann, und warum wird das auf der Welt gebraucht?“ 

Dabei ist entscheidend, dass Teammitglieder den Purpose nicht nur beschreiben, sondern vor allem fühlen können, damit er im Einzelfall, im Vergleich zu den Ego-zentrierten Interessen, als Orientierung den Unterschied macht.

Der Einzelne als Teil des Kollektiven Prozesses

Individuell als Teammitglied ist es wichtig, dass ein bestimmtes Verständnis für die eigenen Stärke, aber auch ein Bewusstsein für die eigenen Schwächen vorliegt. Also ein Gefühl dafür, wann ich mich zurückhalte, und andere glänzen, und wann ich meine Stärken ausspielen kann. Dafür ist es gut, den eigenen Purpose/Sinn zu kennen, aber natürlich keine zwingende Voraussetzung. Vielmehr sind Sensibilität und ein Verständnis nötig, dass jeder Einzelne als Person wichtig ist im besagten Kontext. Auch dann, wenn dies nicht sofort sichtbar ist. Das ist für viele nicht ganz einfach. Denn häufig unbewusst ist das eigene Verhalten Maßstab für das Verhalten anderer, wobei verkannt wird, dass jedes Individuum eigen ist, mit Stärken und Schwächen. Und es ist vor allem dieses Eigene und Individuelle, was bei ihrer Verzahnung Kollektive Intelligenz erst möglich macht. Denn wären alle gleich, würde es diese unglaubliche Kreativität und Vielschichtigkeit der kollektiven Intelligenz nicht geben.

Vertrauensvolle Gemeinschaft als Voraussetzung zur Verzahnung

Damit die verschiedenen Zellen im Körper, also übertragen die Teammitglieder im Team, bestmöglich zusammenarbeiten, muss es ihnen gut gehen. Kranke oder dysfunktionale Zellen stören den kollektiven Beitrag, so dass der kollektive Prozess nicht sein Potential erreicht. Übertragen auf Organisationen ist Voraussetzung für das Entstehen des Potentials das Wohlergehen der Teammitglieder individuell und im Miteinander. 

Dabei hat die vertrauensvolle Gemeinschaft zwei Kernpunkte. 

Der eine beruht auf dem Vertrauen, dass ich mich als Teammitglied zeigen kann, weil ich als Person nicht abgewertet werde, nur weil ich Erwartungen nicht gerecht werde, bzw. Fehler mache oder für andere „seltsame Gedanken“ ausspreche. Das ermöglicht mir relativ authentisch zu sein, stärkt meine Kreativität und hilft mir wiederum, anderen gegenüber offen und die gleiche Nichtabwertung entgegen zu bringen. 

„Kollektiv intelligente Teams arbeiten effektiv und effizient, weil die gemeinsame Kraft in eine Richtung genutzt wird, und nicht wie häufig in Einzelinteressen auseinandergeht.“

Der andere Punkt betrifft die Kommunikation und Zuhörqualität der Gemeinschaft. Dabei sind folgende Fragen für mich zentral: 

  • Schaffe ich es als Teammitglied, meinen Kollegen zuzuhören und herauszufinden, was hinter ihren Beiträgen steckt und schaue, wie die Beiträge den Sinn und das Thema weiterbringen?… vs…. Höre ich vor allem deshalb zu, um wieder mit meinem eigenen Beitrag „glänzen“ zu können oder anderen Einzelinteressen gerecht zu werden? 

  • Und kann ich daneben zu meinen eigenen Ansichten stehen und trage ich Verantwortung für mein Erleben?…vs… Nehme ich mein Umfeld als „ist so“ war und fühle ich mich deshalb häufig in der Ohnmacht, und bin deshalb eher Opfer und Beschwerdeführer?

Es wird deutlich, dass die jeweils zuerst genannten Fragen sehr hilfreich zum kollektiven Potential beitragen, während die zweit genannten Fragen das Gegenteil erreichen. Grundsätzlich dienen diese Fragen der Erinnerung und Bewusstseinsmachung, und werden in unserem Prozess immer wieder auf der Metaebene während eines Teamprozesses reflektiert.

Die Qualität des „Loslassen“ als Voraussetzung, um das nicht Sichtbare entstehen zu lassen

So wenig wie die kollektive Intelligenz in der Natur sichtbar ist, so wenig ist einer der entscheidenden Voraussetzungen für das Entstehen des kollektiven Potentials sichtbar. Hierbei geht es um das Loslassen von Kontrolle, von Gedanken und Handlungsmustern, die wir Menschen häufig (auch unbewusst) mit uns herumtragen. Sie halten und davon ab, frei und unvoreingenommen in einem Prozess zu sein. Sie beschränken uns häufig auf Erfahrungen und Erwartungen, die meist noch nicht mal selbst von uns stammen (sondern aus der x übernommen). Also wenn wir z.B. mit „einem klaren Plan von dem was passieren soll“ in ein Teammeeting gehen, was wir auch führen/moderieren. Dann wird mit größerer Wahrscheinlichkeit ein dem Plan entsprechendes Szenario entstehen und passieren. Erst wenn der Plan zu Gunsten dem, was im Raum wichtiger oder realer ist angepasst wird, kann das Unerwartete, das Potential des Kollektivs sich entfalten. Denn die Struktur oder der Plan von etwas, kann nicht die Wirkung entfalten, die Beiträge mehrerer entfalten, wenn sie sich im Moment des Teilens verzahnen. Und diese Verzahnung kann natürlich nur dann passieren, wenn nicht strikt nach vorgefertigten Plan/Struktur oder der Kontrolle einzelner vorgegangen wird. Dadurch würde das Unerwartete dem Erwarteten Platz machen.

Dieser Prozess des Loslassen bedarf Übung und Bewusstseinsmachung der eigenen Handlungs- und Glaubensmuster. Ein Schritt dahin ist z.B. die Erkenntnis, dass Gedanken, die Druck und Angst fördern, Kreativität stoppen. Denn Angst bindet häufig Kraft, Energie und damit das Potential der Gruppe ab. Je stärker ich als Führungskraft z.B. Druck ausübe in Meetings, desto eindeutiger dürfte das Resultat bzgl. der kollektiven Arbeitsergebnisse sein. Sie werden zumindest die Leichtigkeit und Kreativität des kollektiven Potentials vermissen lassen. 

Was bedeutet das für Führungskräfte und die Struktur in Organisationen?

Um kollektive Intelligenz in Teams und Abteilungen entstehen zu lassen, und dauerhaft in Organisationskultur zu verankern, muss erstmal nicht in teure und neue Strukturen investiert werden. Stattdessen ist vor allem in die Kapazität von Führung zu investieren. Es sind kulturelle und strukturelle Voraussetzungen nötig, die vor allem auch die Führung betreffen.

Für Führungskräfte bedeutet die Einführung von Prozessen zur Förderung kollektiver Intelligenz ein ähnlicher Bewusstseinssprung, wie für Führungskräfte, die von hierarchischer Führung zu Selbstorganisation sich entwickeln wollen. Die Rolle der Führungskraft ändert sich stark. Sie wird zunehmend zum Begleiter und Potentialförderer, was einer Abkehr des typischen „Entscheiders" entspricht.

Die Führungskraft wird zum Coach: sie handelt beratend und Raum haltend, sie weiß um die Stärken der Mitarbeiter und kann Raum schaffen für Ergebnisse, die nicht vorhersehbar sind. Sie hält dennoch den Rahmen und kann, wenn nötig, Struktur vorgeben, wo sie gebraucht wird. Ihre Führungshaltung ist stärker von Vertrauen als von Angst geprägt, dass Kollegen und Teammitglieder ihre Rollen nach bestem Gewissen und Kompetenzen ausfüllen wollen. Ein Verständnis von Fehlerkultur, dass Fehler als Zeichen von Entwicklung und Handlungspotential iRd. „Arbeitsrollenverhaltens“ erkennen (und nicht als Mangel im Menschsein), ist dafür sehr förderlich. Diese Haltung und Bereitschaft gilt es dann natürlich in der Kultur zu verankern. Am besten funktioniert das noch immer über das eigene und konsequente Vorleben dieser Werte.

Außerdem entsteht die Notwendigkeit, strukturell neue Räume zu schaffen. Räume, in denen kollektive Intelligenz entstehen kann, weil dort Raum für das Teilen von Erfahrungen, Ideen und Wissen ist. Das gilt vor allem auch für team-/abteilungsübergreifende Räume, in denen Kollegen zusammenkommen können, um zu teilen, was ihnen wichtig ist. Ich nenne diese Räume gerne #weliketoshareinsights. Sie können relativ offen gestaltet werden, z.B. als wöchentliches und freiwilliges Meeting. Dieses sollte allerdings moderiert werden und Themen betreffen, die für die Teilnehmer eine erhöhte Dringlichkeit/Wichtigkeit haben. 

Jenseits der physischen Räume sind darüber hinaus natürlich Online Tools zum Wissenstransfer und der Wissensverzahnung förderlich. Also z.B. CRM oder Projektmanagementtools, die Usern schnell und einfach erlauben, von benötigtem Wissen unbekannter Kollegen zu erfahren und schnell in Kontakt treten zu können. Das Team von kan.bo hat sich z.B. auf die Fahne geschrieben, genau das dauerhaft für große Organisationen leistbar zu machen, und damit das Prinzip der sog. „lernenden Organisation“ zu unterstützen. Ein weiteres Beispiel für die Verbindung von Mitarbeitern zur Förderung kollektiver Intelligenz ist Workingoutloud, was z.B. bei Bosch eingesetzt wird.

Fazit und Angebot

Auf Basis dieser Erfahrungen arbeiten wir in unserem Seminaren und Workshops mit Teams an den Qualitäten und Skills, um kollektive Intelligenz in Organisationen zu ermöglichen. Dabei unterscheiden sich die zu entwickelnden Kompetenzen und daher die Formate. Im Seminar „Führen mit kollektiver Intelligenz“ wird die Rolle des Teamleads und der Führungskraft geübt, die in Organisationen, Abteilungen und Teams kollektive Intelligenz ermöglichen soll. Sie lernt dabei, die einzelnen Schritte zur kollektiven Intelligenz anzuwenden und andere dabei zu begleiten, diese Schritte in ihrer nötigen Tiefe zu gehen. Hierbei erfährt sie Tools und Methoden, aber auch Erfahrungen im eigenen Loslassen, um dieses Potential in Teams zu ermöglichen. 

In Workshops mit Teams arbeiten wir mit bereits bestehenden Teams, die mit einem eigenen Thema/Herausforderung kommen, und anhand ihres Themas durch die Schritte zur kollektiven Intelligenz gelotst werden. Ihr Vorteil dabei ist, dass sie als Team die Schritte erlernen und gleichzeitig an ihrem realen Thema/Herausforderung arbeiten und dieses kollektiv weiterentwickeln.



Martin Michaelis